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Case-Studies und Blogbeiträge von professionellen Interim Managern und Interim Managerinnen

Volkswagen: Ohne Golf und GTI? (Teil 2/2)

In Teil 1 hatte ich die These vertreten, dass die aktuelle Aufregung bei Volkswagen nicht vom Himmel gefallen ist. Im Gegenteil: Es spricht einiges dafür, dass Vorstand und Arbeitnehmervertreter im Grundsatz abgestimmt sind.

Ein unabgestimmtes Vorgehen des Vorstands dürfte tiefe Einschnitte eher erschweren als begünstigen.

Man unterscheidet folgende Krisenstadien:

  • Stakeholderkrise
  • Strategiekrise
  • Produkt- und Absatzkrise
  • Erfolgskrise/ Profitabilitätskrise
  • Liquiditätskrise
  • Insolvenzreife

Volkswagen ist ein Paradebeispiel dafür – zumindest was die Kernmarke VW und die Produktion in Deutschland angeht – wie eine Stakeholderkrise der Ursprung allen Übels sein kann und grundsätzlich nicht fahrlässig losgetreten werden sollte.

Zu den möglichen Merkmalen einer Stakeholderkrise gehören auch Konflikte mit der Arbeitnehmerseite. Mit der Folge, dass die Motivation und Leistungsbereitschaft der Arbeitnehmer abnimmt und eine gute Kultur schon in diesem frühen Stadium unter die Räder kommen kann.

Bestandteil dieses Krisenstadiums ist immer auch eine Vertrauenskrise – geprägt von wechselseitigen Beschuldigungen und Zweifel am Gegenüber.

Die Schwierigkeiten können so tiefgreifend sein, dass ein Unternehmen sodann mehr mit sich selbst beschäftigt ist, als mit dem Markt.

Um auf die Krisenstadien und im speziellen auf die Kernmarke VW zurückzukommen, befindet sich das Unternehmen in einer Erfolgs- bzw. Profitabilitätskrise. Die  Phase ist u. a. durch eine rückläufige Nachfrage und Renditeverfall gekennzeichnet.

Dem vorausgehend waren die Strategiekrise (fehlende Kundenorientierung, Verlust der Technologieführerschaft, (überhebliche) Fehleinschätzungen des Marktes etc.) und daraus abgeleitet die Produkt- und Absatzkrise, welche durch eine rückläufige Nachfrage gekennzeichnet ist. Schwächen im Sortiment – und in diesem Fall viel zu hohe Fahrzeugpreise – sind klassische Krisenursachen.

Krisenursprung: Das VW-Gesetz

Die Krise bei Volkswagen hat ihren Ursprung vielleicht bereits im Jahr 1960.

Das sogenannte "Gesetz über die Überführung der Anteilsrechte an der Volkswagenwerk Gesellschaft mit beschränkter Haftung in private Hand (VWGmbHÜG)" sorgte u. a. dafür, dass Entscheidungen über Werksstandorte einer vie Fünftel Mehrheit bedürfen.

Das Land Niedersachsen besitzt bei wichtigen Entscheidungen eine Sperrminorität – und das bei gerade mal 11,8 % des gezeichneten Kapitals per 31.12.2023.

Dazu zählen zentrale Entscheidungen der Hauptversammlung und Entscheidungen über Produktionsstätten, welche der Zustimmung des Aufsichtsrates mit einer Mehrheit von zwei Dritteln bedürfen.

Dass die Verlegung von Produktionsstandorten vom Aufsichtsrat abgesegnet werden muss, ist grundsätzlich verständlich und üblich. Im Falle von VW gestaltet es sich aber so, dass die Arbeitnehmerseite – zzgl. der Stimmrechte des Landes Niedersachsens – faktisch die Mehrheit im Aufsichtsrat besitzt.

Weder die Interessenvertreter der IG Metall noch das Land Niedersachsen werden entsprechend restriktiven Standortentscheidungen zustimmen – schon gar keinen -Schließungen. Auch Produktionsverlagerungen ins Ausland können nicht gegen die Stimmen der Arbeitnehmerseite durchgesetzt werden.

Das Problem sind somit nicht die Anteile des Landes, sondern die Stimmrechte.

Betriebswirtschaftliche Notwendigkeiten und Standortentscheidungen treffen damit auf einbetonierte Strukturen und Interessenkonflikte.

Mit der Folge, dass die Probleme so lange moderiert werden, bis spätestens der Markt das Konstrukt zum Einstürzen bringen wird.

Die gegenwärtige Gesamtsituation sollte dennoch beherrschbar sein.

Nachfolgend eine ausgewählte Liste der für mein Dafürhalten drängendsten Handlungsfelder.

TOP 1: STAKEHOLDERKRISE BEENDEN

Der demografische Wandel dürfte Volkswagen – vor dem Hintergrund perspektivisch nicht mehr benötigter Mitarbeiter – eigentlich in die Hände spielen. Mit Blick auf die gegenwärtige Ertragskraft sollte der Konzern eigentlich über ausreichend Instrumente und Managementkapazitäten verfügen, um die Reduzierung der Belegschaft auch ohne betriebsbedingte Kündigungen hinzubekommen.

Mit nur ein bisschen Gefühl für Chance und Risiko hätte man erkennen müssen, dass der Schuss (Kündigung der Beschäftigungsgarantie) mit hoher Wahrscheinlichkeit nach hinten losgehen dürfte. Warten wir es ab.

Die Kombination aus der sehr starken und professionellen Arbeitnehmervertretung, dem paritätisch besetzten Aufsichtsrat und dem auf Wählerstimmen fokussierten Ministerpräsidenten machen es keinem Vorstand leicht. Es wäre nicht das erste Mal, dass am Ende der Vorstandsvorsitzende nicht mehr als Teil der Lösung, sondern als Teil des Problems gesehen wird. Wenngleich der Vorstandsvorsitzende Oliver Blume die Klaviatur zur Ausbalancierung der Stakeholder-Interessen bis zur Kündigung der Tarifverträge- und Beschäftigungsgarantie besser als viele seine Vorgänger spielte.

Fakt ist: Man kann ein Unternehmen niemals gegen die Beschäftigten führen – schon gar nicht in dieser Unternehmensgröße und dem Komplexitätsgrad.

Von daher ist der Vorstand m. E. gut beraten, das zerschlagene Porzellan gesichtswahrend einzusammeln und wieder in den zielführenden Dialog mit der Arbeitnehmerseite einzutreten. Denn eines hat sich stets gezeigt: Gemeinsam – und nicht gegeneinander  – hat man die Herausforderungen in Wolfsburg doch immer noch gelöst bekommen.

TOP 2: PRODUKTPOLITIK AUS KUNDENSICHT DENKEN

Im DAT-Report 2024 findet sich eine interessante Grafik, nämlich zum „Verhältnis Einkommen zu Pkw-Anschaffungspreis". Demnach mussten Neuwagenkäufer 1974 lediglich 38 % vom durchschnittlichen Jahreseinkommen für ein fabrikneues Fahrzeug aufbringen. Im Jahr 2023 sind es bereits 80 %!

Die Produkte von Volkswagen sind durch die Bank zu teuer. Hier erfordert es mehr Mut zum „Volks-Wagen".

Weniger wäre für viel Verbraucher mehr. Nicht jeden Schnick-Schnack hat der Markt bestellt. Es muss doch möglich sein, einfachere Fahrzeuge zu produzieren (siehe Dacia und andere), um über den Ausbau von Marktanteilen und Masse zu einer auskömmlichen Rendite zu gelangen. Volkswagen würde die Marke damit nicht beschädigen, sondern revitalisieren!

Überhaupt nicht nachvollziehen kann der Markt sicherlich das Ende des so beliebten VW „Up!". Begründet wurde das Aus durch Markenchef Thomas Schäfer mit neuen Regeln für Cybersecurity, die ab Mitte 2024 gelten. „Wir müssten da sonst noch einmal eine komplett neue Elektronik-Architektur integrieren. Das wäre schlichtweg zu teuer", sagte er der DPA.

Das ist argumentativ nachvollziehbar, aber dennoch nicht verständlich. Wenn ein Unternehmen finanziell und substanziell so stark aufgestellt ist wie VW – selbst milliardenschwere Strafzahlungen durch den Abgasskandal wegsteckt – und für 2024 von einer prognostizierten Nettoliquidität von voraussichtlich 37 bis 39 Mrd. Euro ausgeht, kann es für seine Kunden auch den Up! am Leben halten.

Für mich eindeutig eine Mischung aus Bequemlichkeit, Arroganz und dem scheinbar ausschließlichen Fokus auf den nächsten Quartalsbericht. Das Kundenbedürfnis scheint hier keine Rolle mehr gespielt zu haben.

Das Unternehmen läuft nunmehr Gefahr, insbesondere diese wichtige Zielgruppe im Einstiegssegment an den Wettbewerb zu verlieren.

TOP 3: MARKENIDENTITÄT BEWAHREN – BEKANNTE MODELLE ELEKTRIZIFIEREN

Schleierhaft ist mir der Move zu den ID-Produkten. Warum elektrifiziert man nicht Modelle, die zur Markenidentität beigetragen haben. Dazu zählt insbesondere der Golf, aber sicherlich auch der Polo und Passat. Darüber hinaus hat man aus GTI nun GTX gemacht. Warum? Mit diesen Entscheidungen schafft man eine Parallelwelt innerhalb des eigenen Produktportfolios und gibt seine Ikonen sukzessive auf. Meines Erachtens der vielleicht gravierendste Managementfehler der letzten Jahre.

TOP 4: STARK DURCH FUSION

Wer es ernst meint mit zu hohen Strukturkosten, kommt am Thema Fusion nicht vorbei. Nur weil Volkswagen, Stellantis & Co. heute eigenständig sind, muss das nicht dauerhaft so bleiben.

Analog zum übersichtlicheren Mittelstand wird auch in der europäischen Automobilindustrie vieles doppelt und dreifach vorgehalten. Das fängt bei sämtlichen indirekten Bereichen an und setzt sich über die Vertriebsstrukturen fort (auch innerhalb der Konzerne!).

Eine Fusion von europäischen Herstellern wäre sicherlich ein Mammutprojekt, dessen Post-Merger-Integration mindestens ein Jahrzehnt in Anspruch nehmen dürfte. Damit würde man aber nicht nur den Strukturkosten den Kampf ansagen, sondern auch dem Mangel an Fach- und Führungskräften intelligent begegnen.

Grundsätzlich müssen alle Hersteller in einem Punkt mit der gleichen Herausforderung umgehen: Nämlich, dass E-Fahrzeuge bekanntermaßen aus viel weniger Teilen bestehen als Verbrenner. Was bedeutet, dass Volkswagen im konkreten Fall auch dann weniger Mitarbeiter benötigt, wenn man genauso viele E-Fahrzeuge wie Verbrenner produzieren würde.

TOP 5: GRÖSSE FÜR VERDRÄNGUNGSWETTBEWERB NUTZEN

Gegenwärtig spielen die neuen Marktteilnehmer aus Fernost nahezu keine Rolle. Insbesondere ist die Angst vor BYD für den Moment unbegründet und wird vielmehr herbeigeredet (nicht in China, aber im deutschen Markt!). Im August konnte der chinesische Autobauer lt. Kraftfahrtbundesamt (KBA) ganze 218 Fahrzeuge neu in Deutschland zulassen. Der kumulierte Marktanteil innerhalb der ersten acht Monate beträgt gerade mal 0,1 %! Die Fahrzeuge sind gut, aber nicht unbedingt günstig.

Volkswagen sollte seine Marktposition und Kapitalstärke auch dafür nutzen, das Angebot günstiger Fahrzeuge – zumindest im Hochlauf des Wettbewerbs – innerhalb des Konzerns zu subventionieren. Dann könnte man heute noch den Up! bestellen, den Kunden an VW binden und gegenüber dem Wettbewerb einen Burggraben im Einstiegssegment aufbauen.

Von daher wünsche ich mir diesbezüglich mehr Aggressivität, Wettbewerbsbereitschaft und einen Fokus auf Volumensegmente.

Nicht jedem Automobilkonzern wird die Transformation zu alternativen Antrieben gelingen. Der Volkswagen-Konzern hätte die Möglichkeit, das im Rahmen seiner Möglichkeiten zu forcieren.

TOP 6: HANDELSORGANISATION STÄRKEN – NICHT SCHWÄCHEN

Ich kenne niemanden, für den die Dichte des Händler- und Servicenetzes kein Kaufkriterium ist. Die Präsenz in der Breite – in der Stadt wie auf dem Land – hat den Volkswagenkonzern stark gemacht. 40,6 % Marktanteil per 08/2024 (Volkswagen Pkw, Audi, Seat, Skoda und Porsche) sprechen diesbezüglich eine deutliche Sprache.

Was wäre der VW-Konzern während des Abgasskandals ohne seine Händler gewesen? Alle Autos zum Umrüsten nach Wolfsburg bringen? Alle Fahrzeuge, die zurückgegeben werden sollten, nach Braunschweig zur Volkswagen Financial Services transportieren? Wohl nicht. Ich hoffe sehr, dass sich diesbezüglich insbesondere der VW-Konzern, an die Mammutleistung seiner Handelsorganisation erinnert.

Die Forcierung des Direktvertriebs und des Agenturmodells ist nur auf den ersten Blick verständlich – aber nur theoretisch und am Kunden vorbei.

Der Hersteller hat sich damit unnötig eine zweite Großbaustelle aufgemacht. Nämlich, abseits der eigentlichen Transformation des Wertschöpfungsprozesses bis zum fertigen Fahrzeug, die Baustelle Vertriebsorganisation. Damit verunsichert und schwächt er das Geschäft vor dem Kunden – bei gleichzeitiger (Doppel-) Belastung der eigenen Organisation.

TOP 7: KOMPLEXITÄT REDUZIEREN

Komplexität ist bekanntermaßen Kostentreiber Nummer 1. Ich denke, dass der VW-Konzern in Summe zu groß und gleichzeitig zu fragmentiert geworden ist. Zumindest erschließt es sich mir nicht, welche Werthebel man sich für den Konzern von Marken wie Ducati, Lamborghini oder Bugatti verspricht.

Im Gesamtkontext spielen sie keine Rolle. Es sind aber auch nur drei Beispiele eines Außenstehenden. Die Aufzählung wird für Insider bestimmt nicht abschließend sein und sich nicht auf die Markenvielfalt beschränken. Mit diesen „Low Hanging Fruits" würde ich anfangen. Ganz grundsätzlich mit Sachverhalten, die verhältnismäßig schnell umgesetzt und ohne viel internen Wirbel vonstattengehen dürften.

Jede einzelne Sonderlocke ist Bestandteil von Prozessen und Strukturen, muss gebucht und konsolidiert werden etc. pp. Entsprechend sollte man sich auf sein Kern- und Volumengeschäft fokussieren und prüfen, ob man die Hinzunahme immer weiterer Marken heute noch genauso treffen würde.

FAZIT

Das Unternehmen hat eine unheimlich starke Substanz und weiterhin alle Möglichkeiten. Betriebsbedingte Kündigungen und Werksschließungen sind aber keine Strategie.

Die Politik wird im Strukturwandel keine direkten Hilfen parat haben können. Das ist vor dem Hintergrund der Bilanzstärke von VW (a) nicht nötig und (b) grundsätzlich nicht zielführend, weil Subventionen ohnehin immer dann ins Leere laufen, wenn der Kunde das Produkt nicht mehr nachfragt.

Volkswagen kann nach meiner Einschätzung DER europäische Automobilhersteller bleiben. Aber vor dem Hintergrund der komplizierten Strukturen nur miteinander – und nicht gegeneinander.

Ulf Camehn
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