Die Kommentatoren werden nicht müde zu schreiben, dass nach dieser Covid-19-Krise nichts mehr so sein wird wie vorher. So auch hier bei uns in Brasilien. Ich weiss nicht, ob es provokativ sei zu behaupten, dass es sich um eine übereilte Schlussfolgerung, mit einem gewissen fehlenden Maß an Realitätssinn handeln könnte.
Dies scheint weder die größte noch die tödlichste der Pandemien zu sein, die den Planeten heimgesucht haben. In der Vergangenheit hat sich an den Folgen der schwarzen Pest, der Syphilis, des Gelbfiebers und sogar der Spanischen Grippe, ob zum Guten oder zum Bösen, immer etwas geändert, aber nicht so sehr, dass sich das Paradigma drastisch geändert hätte. Nach dem Sturm kommt nicht nur immer ein Glücksfall. Etwas anderes kann kommen, sogar eine Überschwemmung.
Eine Krise wie diese ist immer eine gute Gelegenheit für Richtungsänderungen, aber man darf die Verharrungskräfte nicht verachten, die immer mit der Evolution des „Tier Mensch" einhergehen. Aber selbst dann wird etwas bleiben, oder es wird ein bereits eingeleiteter Wandel massiv beschleunigt.
Es ist nicht immer möglich, die Richtung vorherzusagen, welche einschlagen wird. Die führenden Köpfe der Automobilindustrie sind zum Beispiel der Meinung, dass der Trend dahin geht, dass sich bald eine sehr scharfe Kurve auftut, aber sie wissen nicht, wann und mit welcher Intensität dies geschehen wird.
Für diese Situation beschloss Fiat do Brasil, Anthropologen zu konsultieren. Über unseren lokalen Provider iManagementBrazil Ltda. wurde ich selbst in ein Projekt mit einem europäischen Fahrzeughersteller gerufen, um das Servicekonzept radikal neu zu denken und die ersten Feldexperimente zu definieren. Die Versuche in verschieden Servicestationen für Nutzfahrzeuge des Herstellers laufen in diesem Monat an. In den kommenden Wochen wird ein Projektreport mit Ergebnissen veröffentlich werden.
Die Transformationen, denen die Arbeitsbeziehungen unterworfen waren, sollten sich nun intensivieren. Wie bereits in diesem Bereich zu beobachten war, ist das gravierendste Problem der Anstieg der Arbeitslosigkeit in einem Umfeld intensiver Nutzung arbeitssparender Technologien. Gerade in der brasilianische Automobilindustrie ist diese Tendenz auch schon angekommen und zeigte schon vor Covid-19 kräftige Bremsspuren.
Die Einführung von Mindesteinkommens-Systemen, nun auch schon in ersten Zügen in Brasilien andiskutiert, die darauf abzielen, die Auswirkungen der Entlassung von Arbeitskräften auf die Kaufkraft der Verbraucher zu verringern, scheint zunehmend unumgänglich. Das Teuflische ist, dass Programme wie dieses die Verfügbarkeit öffentlicher Mittel voraussetzen.
Am meisten kommentiert wird die zunehmende Tendenz der Arbeit aus dem sogenannten Home Office heraus. Dies gilt wohl nicht für die Produktionslinien oder die Erbringung persönlicher Dienstleistungen, aber es wird zunehmend auch für andere Arbeitsformen gefordert werden.
Covid-19 hat nun deutlich mehr Brasilianer an die Erfahrung der Arbeit aus dem sogenannten Home Office herangeführt. Allerdings war diese Erfahrung für zahlreiche Führungskräfte, besonders in den großen Ballungszentren wie São Paulo, wirklich nicht neu.
Wirklich neu ist diese Erfahrung für junge und nicht selten hochqualifizierte Brasilianer. Und diese Erfahrung war und ist für diese Gruppe nicht so positiv, wie sich viele erträumten. Aber zu dieser speziellen Erfahrung werde ich in einigen Tagen einen gesonderten Beitrag online stellen.
Eines mag schon mal vorweggenommen sein. Das Konzept des Home Office sollte nicht zur Leitidee einer möglichen neuen Arbeitswelt werden. Das Konzept muß deutlich weitergehen und als Remote Work Station (RWS) gedacht werden.
Einige Änderungen der Gesetzgebung und der Gewerkschaftsvereinbarungen werden auf diesem Weg unvermeidlich sein. Dieses System kann z.B. die Annahme starrer Arbeitsbelastungen wie Zeitplanung, Überstundenzählung und Zeitkonto nicht aufrechterhalten, da es sich dabei nicht um Prozesse handelt, die direkten Kontrollen unterliegen.
Die allgemeine Einführung dieses Systems erfordert eine größere Offenheit der Unternehmensdaten-Umwelt und eine zuverlässige Verbindung zwischen den Computersystemen.
Die neue Praxis könnte auch auf riesige Büroflächen verzichten, Fahrkosten und interne Restaurantausgaben reduzieren. Aber andere Ausgaben werden notwendig, um die Effizienz der Arbeit außerhalb des Firmensitzes zu gewährleisten.
Auch darf niemals die kreative Kraft einer physischen Gruppe unterschätzt werden. Somit sollte klar werden, dass eine andere Führungskultur notwendig werden wird.
Diese Führungskultur wird nicht als alleiniges Attribut „jung sein" haben. Es wird nicht das einzig entscheidende Merkmal sein, digitale Apps zu Projektorganisation zu kennen und zu beherrschen. Empathie haben und Menschenfreund sein wird ein fundamentaler Charterzug dieser Führungskraft. Das erkennen von Stärken und Schwächen der Teammitglieder und deren taktischer Einsatz wird Leader definieren. Und das ist nicht unbedingt an das Alter der Führungskraft gebunden.
Die Architektur der privaten Residenzen wird neue spezifische Arbeitsbereiche und die Installation intelligenter Geräte vorsehen, deren Nutzung mit der Ankunft der 5G-Verbindung intensiviert wird. Schließlich scheint es unvermeidlich, dass die Innenräume neu angepasst und die Bereiche des städtischen Lebens neu definiert werden müssen.
Eine weitere Erfahrung aus diesen Zeiten der Isolation, ist der Heimunterricht. Die Kinder und Jugendlichen wurden plötzlich in ihren Wohnungen eingesperrt, was dem Studienplan des Jahres schadete. Aber es gibt eine Öffnung für eine stärkere Nutzung des Online-Schulsystems, um nicht mit Home Schooling verwechselt zu werden.
Das fing schon mit Fernkursen an, und jetzt können mit Videoanrufen und anderen digitalen Funktionen und Dienstleistungen neue Steigerungen erzielt werden.
Sie lesen es landauf und landab: E-Commerce und Delivery Services müssen nun intensiviert werden. Die kommerziellen Bereiche, die sich nicht auf die Einführung dieser Dienste vorbereiten, laufen Gefahr, Marktanteile zu verlieren.
Einkaufszentren in Brasilien hatten diesen Richtungswechsel schon lange vor Covid-19 zu spüren bekommen. Es begannen Geschäfte in Show Rooms verwandelt zu werden. Da die Verkäufe über das Internet abgewickelt werden, ist der Anteil der Einkaufszentren an den Einnahmen der Geschäfte zurückgegangen. Das ist eine Beziehung, die neu überdacht werden muss. Die Betreiber der Shopping Center in São Paulo und Rio de Janeiro denken schon intensiv darüber nach. Nicht alles in einem Einkaufszentrum kann in einen Freizeit- und Foodcourt verwandelt werden.
Kurzum, es liegt eine Welt potenzieller Neuheiten vor uns. Es bleibt abzuwarten, wie und wann dies geschehen wird. Aber, vorsichtig mit einfachen Lösungen aus der pre-Covid-19-Zeit! Es ist nun deutlich wichtiger, notwendige Analysen durchzuführen, um dann Szenarien für die Zeit danach zu entwickeln.
Frank P. Neuhaus
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