Ist an der Kakophonie der Digitalisierung etwas dran oder lässt sich die Musik als Marketinggetöse einordnen? Lassen Sie mich dazu einen Blick ins Gesundheitssystem werfen, um so zumindest die Frage beantworten zu können, ob eine Digitalisierung im Gesundheitswesen nötig, machbar und gegebenenfalls bereits im Gange ist.
Zu den Rand- und Rahmenbedingungen: In den Industrieländern wird die Bevölkerung immer älter. Die Gründe hierfür sind Ernährung, Hygiene, Antibiose und der allgemeine medizinische Fortschritt. Auch wenn die Entwicklung der durchschnittlichen Lebenserwartung in den Industrienationen mehr oder weniger stagniert, lässt der steigende medizinische Fortschritt sowie die nach wie vor vorhandene überkalorische Versorgung der Bevölkerung die Annahme zu, dass die Gesundheitskosten weiterhin deutlich steigen werden.
Profan ausgedrückt: Wir essen zu viel, wir werden immer dicker und die Medizin weiß damit immer besser umzugehen.
Die Konsequenz ist, dass das Gesundheitssystem sich in der bekannten Form nicht halten lässt, da die Gesundheitskosten sich deutlich schneller als die Wirtschaft entwickeln.
Ein weiteres Thema sind die heutigen Familienstrukturen. Eltern und deren erwachsene Kinder leben heutzutage nicht selten nicht mehr in Mehrgenerationen-Familien. Damit sind tradierte Versorgungsstrukturen (Sohn/Tochter/Schwiegerkinder versorgen die Elterngeneration) nur noch begrenzt vorstellbar, auch hier werden die Kosten steigen.
Wie nun damit umgehen? Es gibt hierbei mehrere Möglichkeiten.
(1) Es lässt sich darüber nachdenken, wie die überkalorische Versorgung der Menschen in eine Richtung verschoben werden kann, die das allgegenwärtige Übergewicht und die sich daraus ergebenden medizinischen Probleme verhindern beziehungsweise vermindern, bevor diese überhaupt erst entstehen. Das Schlagwort an dieser Stelle lautet Nudging, welches digital durchführbar ist. Ergo: Digitalisierung wäre hierfür eine Lösung!
(2) Mehr theoretischer Natur sind Überlegungen, die mit einer Rationierung der medizinischen Leistungen im Alter einhergehen. Meine ganz persönliche Meinung: Es wäre eine Bankrotterklärung unserer wohlhabenden Gesellschaften, so wir ernsthaft darüber nachdenken würden, Menschen im Alter eine adäquate medizinische Leistung vorenthalten zu wollen. Ich möchte diesen Punkt daher erst gar nicht vertiefen.
(2) Es ist theoretisch möglich und praktisch notwendig, sich Gedanken zu machen, wie wir die Adhärenz (Therapietreue) so beeinflussen, dass Patienten sich an die ihnen anhand gegebenen Therapieregime halten und sich so der therapeutische Erfolg einstellt. Auch hier mag das Schlüsselwort (digitales) Nudging sein. Da die Kosteneinsparpotentiale, wie sie sich durch die Nutzung des Themas Adhärenz ergeben könnten, immens sind, muss hier dringend und konsequent nach Lösungen gesucht werden. Lassen sich diese mit den Ansätzen der Digitalisierung umsetzen, stünde damit dem Gesundheitssystem und der Gesellschaft ein kosteneffizienter Ansatz zur Beeinflussung medizinischer Effizienz zur Verfügung.
(2) Erstaunlicherweise werden big data-Anwendungen reichlich selten diskutiert. Insbesondere sind die Möglichkeiten zu analysieren, die sich ergeben, wenn man klinische Daten, Daten des Labors und bildgebende Verfahren überlagert. Diese lassen sich des Weiteren mit Bewegungsprotokolldaten von Patienten anreichern, so wie auch die Daten genutzt werden können, die wir aus der Vielzahl der heute schon genutzten Gadgets sammeln können.
Schon heute ließen sich z. B. klinische Daten von chronischen Patienten (Beispiel: metabolisches Syndrom, diabetischer Fuß, Gangräne, Gewicht, BCM, etc.) mit Labordaten (HbA1c) korrelieren. Ebenso können sich Bewegungsdaten von an Parkinson erkrankten Patienten mittels Drucksensor-Schuheinlagen messen und mit dem gezeigten Maß an Akinesie vergleichen. Und ebenso ließe sich das aktuelle Bewegungsprotokoll geriatrischer Patienten mit ihren ansonsten gezeigten Bewegungsmustern vergleichen und so eine, hinsichtlich des Ortes und der Zeit ungewöhnliche, Immobilisierung der Patienten rechtzeitig erkennen. Gepaart mit einem Push-Benachrichtigungssystem, wäre so viel medizinisches Ungemach für den Patienten und seine Familie zu vermeiden.
Diese Möglichkeiten gibt es heute schon alle, doch genutzt werden sie viel zu wenig. Die Ursachen hierfür sind mannigfaltig. So ist das Thema Digitalisierung ein schlichtweg noch sehr junges. Die Marktteilnehmer (Arzt, Krankenhaus, Pharma, MedTec, Versicherungen, etc.) suchen noch nach Lösungen und stehen zugleich vor der Herausforderung, sich dazu von einem Modell des Gesundheitsmarktes trennen zu müssen, welches sie über viele Jahrzehnte begleitete.
Verstärkt wird dies durch mindestens zwei weitere Faktoren. So lässt sich in aller Eindeutigkeit konstatieren, dass die gängigen, vorherrschenden Bezahlmodelle des Gesundheitswesens weniger auf das Thema Prophylaxe einzahlen, sondern vielmehr die Behandlung einer Vielzahl von Krankheitsfällen kaufmännisch ent- und belohnt wird.
Des Weiteren lässt sich festhalten, dass die Möglichkeiten der Digitalisierung, die schon heute erkennbar sind, nur dann erfolgreich umgesetzt werden können, wenn das Gesundheitssystem etwas leistet, was dem durchschnittlichen Tun von Menschen geradezu diametral gegenübersteht: Dem Silo-übergreifenden Arbeiten. Digitalisierung wird erst dann zu einem Erfolgsmodell werden, wenn wir die Grenzen der Systeme IT, Klinik, Arzt, Labor sowie weiteren Systemen der Patientenversorgung sprengen und diese in ein System der kommunizierenden Röhren umwandeln.
Nicht zu vernachlässigen ist ebenso die Grenze der Bismarck´schen Tradition. Wir sind es schlichtweg gewohnt, dass alles an Kosten im Gesundheitssystem durch den Staat oder die Versicherung übernommen wird. Damit nutzen wir nicht die Möglichkeiten, die sich damit ergeben würden, so wir dem System zusätzliches, privates Geld zur Verfügung stellen würden. Sicher ist, dass die hierfür notwendige Bereitschaft niedrig ist (Konsum ist halt zu verlockend). Sicher ist aber auch, dass ohne neuartige, zusätzliche private Zahl-Dienstleistungen sich kein neues Gesundheitssystem gestalten lässt und damit auf dem aktuellen Stand eingefroren wird.
Meine persönliche Vision des kommenden Gesundheitssystems ist eine, die sich durch Patientenzentrierung und Rationalität auszeichnet.
Ressourcenverschwendung, so wie wir diese heute kennen, werden wir uns im Zeitalter einer veränderten Demographie nicht leisten können und wollen. Um eine gleichbleibend hohe medizinische Versorgung gewährleisten zu können, müssen wir sektorenübergreifend mehrere Themen anpacken:
(1) Veränderung der Ernährungsgewohnheiten durch digital durchgeführtes Nudging
(2) Veränderung der Diagnose und Therapie durch Nutzung digitaler Algorithmen
(3) Patientenhubs, die es der Kindergeneration erlauben, das medizinische Leben rund um ihre Eltern remote zu organisieren und zu monitoren.
Die Qualität und Quantität der sich damit ergebenden Aufgaben ist komplex und hoch. Die etablierten Marktteilnehmer werden nicht immer in der Lage sein, diese zu erfüllen, da sie nicht in der Lage sind, geeignetes Personal in ausreichender Personenstärke, Ausbildungsqualität und Erfahrungsgüte vorzuhalten. Interimmanager sind hierfür idealtypische Lösungspartner, zumal es ihre Stärke ist, kulturell relevante Beiträge zu leisten und so die bisweilen eingefrorenenen Strukturen aufzubrechen.
Dr. Bodo R. V. Antonic - Spezialist für Umsatzwachstum in der Life-Science-Industrie
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